Die schriftlichen Nachrichten über die Anfänge des Christentums in Reims reichen noch in das 3. Jahrhundert hinauf. Die älteste Version der Bischofsliste für Reims findet sich zwar zusammen mit Nachträgen erst in ms. 84 der Bibliothèque municipale in Boulogne-sur-Mer überliefert, einer Handschrift, die noch dem ausgehenden 11. Jahrhundert angehört. Sie stammt aus der ehemaligen Bibliothek des Domkapitels in Arras und enthält außer einer Bischofsliste für Arras-Cambrai auch die älteste Version der »Gesta Atrebatensium« zur Gründung der Diözese Arras 1093–10941. Jedoch dürfte eine solche Version der Bischofsliste für Reims 870 bereits Erzbischof Hinkmar vorgelegen haben, als er gegen seinen gleichnamigen Neffen und Bischof von Laon polemisierte2. Gleiches gilt wohl auch für Almann oder Altmann von Hautvillers in seiner »Vita Nivardi«3 .
Die Bischofsliste beginnt mit Sixtus, dem zwei weitere im Übrigen unbekannte Namen folgen, Sinicius und Amausius. Hinkmar schreibt in seiner erwähnten Streitschrift gegen seinen gleichnamigen Neffen, den Bischof von Laon, die Entsendung des Sixtus gehe auf Papst Sixtus zurück. Damit dürfte Sixtus II. (257–258) gemeint sein, zu dessen Zeit nach einer Mitteilung Gregors von Tours sieben Bischöfe zur Verkündung des Glaubens nach Gallien entsandt wurden4. Demnach könnte die Kirchengründung indirekt auf eine römische Initiative zurückgehen. Erst die »Acta sanctorum Sixti et Sinnicii«5 und Flodoard lassen dagegen Sixtus auf Geheiß des hl. Petrus nach Reims entsandt werden6 und insinuieren damit sogar eine Gründung in apostolischen Zeiten.
Der erste historisch sicher bezeugte Bischof von Reims ist indes Imbetausus, der zusammen mit seinem Diakon Primigenius 314 am Konzil von Arles teilnahm7. Zwischen Imbetausus und Benadius, dem Vorgänger des Remigius im 5. Jahrhundert, dessen Testament Flodoard kennt, folgen neun weitere Namen, von denen sich allein mit dem Namen des Nicasius im Gedächtnis der Kirche von Reims bestimmte Vorgänge verbinden lassen. Flodoard dagegen beruft sich dabei auf eine »Passio Nicasii«, die aber sonst nirgendwo überliefert ist8. Ihr zufolge soll Nicasius das Martyrium während eines Vandaleneinfalls (407) erlitten haben. Der Ort des Martyriums soll die Kathedrale der Gottesmutter und Jungfrau Maria gewesen sein, die er mit seinem Blut geweiht habe. Die Nachricht verdient jedoch insofern Vorsicht, als ein Marienpatrozinium vor dem Konzil von Ephesus (453) bislang nicht nachzuweisen ist. Der Bischofssitz, so Flodoard, sei dagegen zuvor seit alters die Kirche ad Apostolos gewesen, die nach dem Tod des Bischofs Sonnatius 626 Empfängerin eines Legates von Edelmetall zur Fertigung eines Kelchs wurde9 und im Testament des Bischofs Lando als basilica Sancti Simphoriani que vocatur ad Apostolos erwähnt wird 10. Sie wäre damit an der Stelle der späteren Stiftskirche Saint-Symphorien zu suchen, die bis 1796 ca. 150–200 m östlich der heutigen Kathedrale lag und an die heute nur noch ein Straßenname erinnert11.
Der bekannteste und berühmteste Bischof aus früher fränkischer Zeit ist Remigius (um 438–um 533 Januar 13). Er war es, der König Chlodwig I. bei der Übernahme der Herrschaft über die Belgica secunda (482?) ein Schreiben übersandte12, und nach seiner Einweisung in den neuen Glauben nahm er den König in den Stand der Katechumenen auf und taufte ihn und seine Anhänger in Reims. Wann dies stattfand, ist umstritten. Jüngst wurde das Ereignis auf das Weihnachtsfest des Jahres 505 datiert13. Remigius trat als Metropolit seiner Kirchenprovinz hervor, als er nach der Reichsteilung von 511, bei der die civitas Reims geteilt wurde, den neu entstandenen Teil als Diözese Laon aus der alten Diözese Reims ausgegliedert haben soll14 und zugleich die Diözesen Arras und Tournai zu gründen suchte bzw. gründete15. Seinem Ansehen und seinem Wirken verdankt die Metropole Reims ihren Vorrang und ihre führende Rolle im künftigen Frankenreich: ihm wurde später der Ehrentitel eines Francorum apostolus zuteil. Das Testament des Remigius gilt in der kürzeren Version, die in Hinkmars »Vita Remigii« überliefert wird, heute als echt16.
Die Dekretale, die angeblich Papst Hormisdas an Remigius, Bischof von Reims, gerichtet haben soll und die diesem im gesamten Reich seines geistlichen Sohnes Chlodwig seine Stellvertretung übertrug, vorbehaltlich der seit alters den Metropoliten zustehenden Privilegien (unten Nr. †?1, JK †866 , J³ †?1673 : Suscipientes plena fraternitatis), ist dagegen eine Fälschung, die erstmals bei Hinkmar auftaucht17. Das Schreiben wurde gefälscht, nach Vorlage des echten Briefes des Hormisdas an Bischof Sallustius von Sevilla ( JK 855 )18.
Der erste Bischof in Reims indes, für den sich Beziehungen zum römischen Bischof zweifellos nachweisen lassen, ist Abel gewesen, für den Bonifatius bei seinen Bemühungen, im fränkischen Reich die Metropolitanverfassung zu verankern, von Papst Zacharias das Pallium erbat (744) (unten Nr. *2, J³ *3950 ). Der erste Bischof, dem tatsächlich Papst Hadrian I. das Pallium verliehen hat, war jedoch erst Tilpin (779) (unten Nr. *6)19. In der Folgezeit, in der die Quellen zwar nur spärlich fließen, darf aber allein deshalb mit Kontakten jedes Erzbischofs zum apostolischen Stuhl gerechnet werden, weil die Ausübung des Metropolitenamtes an die Verleihung des Palliums durch den römischen Bischof geknüpft war.
Verhältnismäßig gut unterrichten zeitgenössische Quellen, vor allem Briefe der Hauptbeteiligten, über die spannungsreichen, zuweilen konfliktgeladenen Beziehungen, die der selbstbewusste und stets auf den eigenen und den Vorrang seiner Kirche bedachte Hinkmar, der bekannteste Erzbischof von Reims im 9. Jahrhundert, zu den römischen Bischöfen seines Zeitalters unterhielt. Er fand indes in Papst Nikolaus I. (858–867) einen entschiedenen Gesprächspartner. Das gefälschte Schreiben des Papstes Hormisdas an Remigius (unten Nr. †?1) und das großenteils interpolierte Schreiben Hadrians I. an Erzbischof Tilpin (unten Nr. ?7, JE 2411 , J³ ?4401 ) zeigen indes, dass selbst Hinkmars selbstbewusste Vorstellungen von seiner Amtsgewalt in der Gewissheit gründeten, Rom sei der Fels des orthodoxen Glaubens20. Die Haltung, die Hinkmars Nachfolger Fulco zu den römischen Bischöfen einnahm, aber auch die Überwindung der Krise in der Kirche von Reims nach der Absetzung des Erzbischofs Artold, ferner das Konzil Leos IX. in Reims (1049), die teilweise eigenwilligen Pläne des Erzbischofs Gervasius und schließlich die Reise Rainalds I. zu Papst Urban II. zwecks Empfangs des Palliums und eines Privilegs (unten Nr. 337, JL 5415 ) bestätigen die zunehmende Stetigkeit in den Beziehungen der Kirche von Reims zu den Päpsten. Sie kam noch im Verlauf des 12. Jahrhunderts schließlich in der Verleihung des Legatenamtes an die Erzbischöfe Samson durch Eugen III. und Hadrian IV. und an Wilhelm (Guillaume aux Blanches Mains) durch Alexander III. und seine Nachfolger zum Ausdruck. Und sie bestand trotz persönlicher Belastungen in den Beziehungen Alexanders III. zu Heinrich von Frankreich während des 1159 ausgebrochenen alexandrinischen Schismas ihre Bewährung. Die zunehmend engere Beziehung der Metropole mit ihren Erzbischöfen und Kirchen zu den Päpsten hat wohl dazu geführt, dass Leo IX. 1049, Calixt II. 1119, Innocenz II. 1131 und Eugen III. 1148 auf ihren Reisen durch das Königreich Frankreich in der Metropole Reims den Episkopat und Äbte zu Konzilien um sich versammelten. Die schnelle Beilegung der Krise nach der Absetzung des Erzbischofs Manasses’ I. durch Gregor VII. bestätigt eindrucksvoll diese Grundhaltung.
Was man bis zum 10. Jahrhundert vorgebracht hat, um die Beziehungen der Kirche von Reims zur römischen Kirche als besonders eng zu erweisen und möglichst in das apostolische Alter hinauf datieren zu können, ist dem Schreiben zu entnehmen, das Erzbischof Fulco in bedrohlicher Lage (885–886) an Papst Stephan V. richtete, als die Normannen seine Kirchenprovinz zum wiederholten Mal heimsuchten (unten Nr. 131). Darin heißt es: Auch wenn einige von ihnen wie der Bischof von Thérouanne gezwungen seien, ihre Bischofsstadt zeitweise zu verlassen, verharre er mit seinen Mitbischöfen in der Verehrung des römischen Bischofssitzes. Was auch immer der Kirche Gottes an Notwendigem widerfahre, würden sie mit dem Verlust ihrer Habe und ihres Leibes vollenden, wie es der Reimser Kirche gezieme, der seine, des Papstes, Vorgänger vor allen gallikanischen Kirchen den Primat verliehen hätten, und zwar an Sixtus, den ersten Bischof der Gegend, der von Petrus entsandt worden sei. Auch habe Papst Hormisdas dem hl. Remigius für ganz Gallien seine Stellvertretung erteilen wollen21.
Der besonderen Stellung der Erzbischöfe von Reims innerhalb der ecclesia Gallicana entspricht die Machtstellung, welche ihnen als den Inhabern von weltlichen, ja sogar hoheitlichen Rechten in ihrer Metropole zukam.
Im Mittelalter waren die Erzbischöfe von Reims mit besonderer weltlicher Macht ausgestattet, die in diesem Ausmaß für das Königreich Frankreich nur selten und vereinzelt anzutreffen ist. Wie andere Bischöfe im spätantiken und fränkischen Gallien waren auch die Bischöfe von Reims zunächst als Grundherren auf den Gütern ihrer Kirche mit Immunität ausgestattet worden. Urkunden über die Verleihung der Immunität haben sich jedoch nicht erhalten. Flodoard berichtet von einer solchen Immunitätsverleihung, die Bischof Egidius von König Childebert II. erhalten habe22. Hinzu kam bald eine Zollbefreiung. Jedoch zeigen zahlreiche Quellen aus karolingischer Zeit für Reims, dass im 8. Jahrhundert Kirchengut der Reimser Kirche in umfangreichem Ausmaß zu Leistungen für den König herangezogen wurde, und dabei erfährt man aus einer Nachricht über eine Verleihung Karlmanns, des Bruders Karls des Großen, dass bischöfliche milites, die auf bestimmten Gütern der Kirche von Reims saßen, vom Militärdienst für den König ausgenommen wurden23. Dass es in dieser Zeit zur Entfremdung zahlreicher Kirchengüter kam, ist vor allem durch Hinkmar bezeugt, der noch lange darum bemüht war, entfremdetes Kirchengut wieder in den Besitz seiner Kirche zu überführen.
Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Rahmen der Erwerb hoheitlicher Rechte und Befugnisse durch die Erzbischöfe von Reims, der sich über einen größeren Zeitraum erstreckte. Allein im Hinblick auf die weltliche Stellung der Erzbischöfe in der Metropole und in ihrer Umgebung, wie sie in dem feierlichen Privileg Alexanders III. entgegentritt, das dem Erzbischof Wilhelm (Guillaume aux Blanches Mains) nach dem III. Laterankonzil und nach seiner Erhebung zum Kardinalpriester von Santa Sabina am 13. April 1179 ausgefertigt wurde (unten Nr. 1055, JL 13382 ), muss darauf näher eingegangen werden. Das Privileg ist übrigens für das 12. Jahrhundert insofern das wichtigste Dokument für die weltliche Herrschaft, als es auch die vom Erzbischof her lehnrührigen Grafschaften aufzählt, für deren lehnrechtliche Abhängigkeit es andere Quellen sonst nicht mehr zu geben scheint.
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur weltlichen Herrschaft dürfte die Übernahme missatischer Gewalt durch die Erzbischöfe zur Zeit Karls des Großen und seiner Nachfolger gewesen sein: Wulfhar, Ebo und Hinkmar waren zugleich königliche missi, wenngleich, anders als benachbarte Metropoliten, nicht über die gesamte, sondern stets nur über Teile ihrer großen Kirchenprovinz. Das hing nicht nur mit deren enormer Ausdehnung, sondern auch mit der »Massierung des Königsgutes« in dieser Provinz zusammen24 Dazu kommt, dass Erzbischof Fulco die römische Stadtmauer angesichts der Normannengefahr wiederherstellen ließ, die man zum Teil als Steinbruch für den Neubau der Kathedrale unter Ebo und Hinkmar benutzt hatte, nachdem Ludwig der Fromme dem Erzbischof Ebo und seiner Kirche »für den Neubau und die übrigen für die Notwendigkeiten der dort Gott Dienenden zu errichtenden Bauten die gesamte Mauer mit den Stadttoren« geschenkt und »jegliche Leistung zusammen mit allen Kosten« erlassen hatte, die man »aus den Gütern und Vermögen dieser Kirche und des Bistums Reims in unserer königlichen Pfalz Aachen durchzuführen und an diese zu zahlen pflegte«25, ferner, dass die Erzbischöfe seit dem Ende des 9. Jahrhunderts an der Spitze ihrer Stiftsvasallen das Aufgebot anführten, sich dazu um die Errichtung von Kastellen auf dem Lande bemühten und die Festung Coucy(-le-Château-Auffrique, arr. Laon, Aisne) errichteten, ohne dass dabei von der Zuständigkeit eines Grafen etwas verlautete.
Entscheidend auf dem Wege zur Vollendung der weltlichen Herrschaft war die Übertragung der Grafschaft durch Ludwig IV. an Erzbischof Artold, die Flodoard zum Jahr 940 in den Annalen mitteilt: dedit autem rex Artoldo archiepiscopo ac per eum aecclesiae Remensi, per praeceptionis regiae paginam, Remensis urbis monetam iure perpetuo possidendam, sed. et omnem comitatum Remensem eidem contulit aecclesiae26.
Die Folgen dieser Verleihung, die zu einem Zeitpunkt erfolgte, als Ludwig IV. an einem Tiefpunkt seiner Herrschaft angelangt war, sollten erst später erkennbar werden. Zudem hat die Verleihung insofern zu Zweifeln geführt, als Heribert III. nach 968 die Grafschaft innehatte. Deshalb hat man die Nachricht über die Verleihung des comitatus als Interpolation ansehen wollen, die zwischen 998 und 1059 entstanden sei, da Richer nichts davon berichte 27. Dagegen wurde eingewandt, dies beruhe auf einem argumentum e silentio, da die Übertragung der Münze durch Münzprägungen bezeugt werde und auch die Übertragung von Grafenrechten durch Ludwig IV. in der für ihn besonders prekären Lage eine verständliche Handlung gewesen sei, um Bundesgenossen an sich zu binden, auch wenn Erzbischof Artold erst mit Hilfe Ottos I. Reims erneut in Besitz nehmen konnte28. Erst die Verleihung der Grafschaft bildete die Grundlage zur Entstehung eines kirchlichen Fürstentums, und folgerichtig tritt nach der Wiedereroberung der Metropole seit 947 im Gefolge des Erzbischofs ein wohl von ihm belehnter Graf Ragenold auf. Flodoard nennt zwar eine Grafschaft Ragenolds nicht, jedoch wird dieser in zwei zeitgenössischen Quellen als comes Remensis bezeichnet. Seinen Sitz hatte Ragenold in Roucy, einer befestigten Burg nordwestlich von Reims, unweit der Aisne (c. Neufchâtel-sur-Aisne, arr. Laon, Aisne). Als er 967 verstarb, hinterließ er einen Sohn Giselbert in noch jungem Alter. Dieser verzichtete 990 zugunsten der Abtei Saint-Remi – dies erfährt man erst aus einer Streitschrift, die über ein Jahrhundert danach in dem schweren Streit zwischen Saint-Remi und Saint-Nicaise entstand – auf die Hälfte der Vizegrafschaft und auf sechs Verkaufsstände (die zugleich einen Jahrmarkt bezeugen) sowie auf Hoheitsrechte aus seinem Grafenamt im burgus von Saint-Remi29. Ein Laie hatte somit die Grafschaft inne und übte im burgus von Saint-Remi das Amt eines Vizegrafen aus. Wenig später, 1023, kaufte Erzbischof Ebalus, der dem Hause der Grafen von Roucy angehörte, dem Grafen Odo der Champagne nach dessen Verzicht den comitatus Remensis mit dem Vizecomitat ab; zugleich akzeptierte er, dass dieser die bisher von der Kirche von Reims lehnrührigen Grafschaften Rethel, Porcien und Roucy mediatisierte30. Aber erst als Erzbischof Gervasius bei der Gründung der Mönchsabtei Saint-Nicaise (1055–1160) auch dem Grafen Theobald von Troyes seine Niederlassung abkaufte, die dieser als letztes beneficium in der Vorstadt von Reims bei dieser Kirche besaß, gaben der Graf und damit zugleich das Grafenhaus der Champagne ihre Stellung in der Metropole auf. Damit war der Erzbischof alleiniger Inhaber von Grafenrechten in Reims und der gleichnamigen Grafschaft.
Bis ins 10. Jahrhundert bildeten Bistumsgut und beträchtliche Teile des Besitzes der Abtei Saint-Remi eine Einheit31. Als Erzbischof Tilpin die spätantike basilica von einer Klerikergemeinschaft in eine Mönchskommunität umwandelte32, behielten er und seine Nachfolger gleichwohl fortan die Leitung der Abtei in Personalunion zu ihrem Amt bei, während ein prepositus an der Spitze des Konvents stand. Dies sollte sich erst gegen Mitte des 10. Jahrhunderts ändern, als Erzbischof Hugo von Vermandois um 940/945 der Abtei in der Person eines Mönchs namens Hinkmar einen Abt gab33.
Sowohl Pierre Varin, der im 19. Jahrhundert einen beträchtlichen Teil der mittelalterlichen Überlieferung aus der alten Metropole der Gallia Belgica veröffentlichte34, als auch Louis Demaison, der die Archive der Erzbischöfe und des Metropolitankapitels durch ein ausführliches Inventar erschlossen hat35, waren sich in ihren Urteilen über den Archivfonds der Erzbischöfe einig: Im Vergleich zu den Fonds anderer Kirchen des mittelalterlichen Reims und gemessen an der Bedeutung, welche die Erzbischöfe für die Geschichte des mittelalterlichen Frankreich und für die engen Bindungen dieser Kirche zum apostolischen Stuhl ehemals hatten, lässt sich der heute noch vorhandene Archivbestand der Erzbischöfe in Reims nur als denkbar dürftig bezeichnen. Demaison wies darauf hin, dass allein eine Urkunde von 1172, mit der Petrus Cellensis, der Abt von Saint-Remi, dem Erzbischof Heinrich von Frankreich nach dessen Konflikt mit dem Grafen Heinrich von Troyes Land in Sept-Saulx und Villers-Marmery (c. Verzy, arr. Reims, Marne) abtrat, das der Abtei Saint-Remi und dem von ihr abhängigen Stift Saint-Timothée gehörte, das einzige erhaltene Original aus dem 12. Jahrhundert sei36. Selbst für das 13. Jahrhundert liegen außer einem Original von 1285 nur neuzeitliche Abschriften vor. Er möchte wie schon Varin die hauptsächliche Ursache dafür in einem verheerenden Brand sehen, der während des Pontifikats des Erzbischofs Regnault de Chartres am Nachmittag des 25. März 1423 das Innere der erzbischöflichen Residenz in der Festung an der Porte-Mars völlig zerstörte. Die dafür herangezogenen Quellenzeugnisse sprechen in der Tat eine deutliche Sprache.
Die notorische Armut bischöflicher Archive ist keine Reimser Besonderheit37. Nicht ausgeschlossen ist, dass gelegentlich auch noch andere Ursachen für Verluste von Urkunden im Archiv der Erzbischöfe gesorgt haben, etwa die Ausübung des Spolienrechtes38, sobald durch den Tod des Erzbischofs das Erzbistum für die Zeit der Sedisvakanz »in die Hände des Königs« zurückgefallen war. Während es jedoch für die Ausübung des Regalienrechtes durch Beauftragte des Königs gute Beispiele aus dem 12. Jahrhundert gibt, haben sich, anders als im Fall des Bistums Châlons, authentische Zeugnisse zur Ausübung des Spolienrechts in der Kirche von Reims aus dem 12. oder 13. Jahrhundert meines Wissens nicht erhalten, außer einer Anspielung in einem Brief des Bernhard von Clairvaux39.
Dafür, dass es bereits im 9. Jahrhundert ein beträchtlich großes eigenes Archiv der Kirche von Reims gab, ist Flodoard der beste Zeuge und Gewährsmann. Es wurde unter Erzbischof Ebbo erbaut, war zusammen mit einer cripta dem hl. Petrus und allen Aposteln sowie den Bekennern und Jungfrauen geweiht und bewahrte zugleich Reliquien als »Unterpfänder«40. Wie lange dieses Archiv erhalten blieb und welche Umstände zu seinem Verlust führten, ist leider nicht bekannt. Ebenso unbekannt ist, wann genau das Metropolitankapitel als zunehmend erstarkende Korporation damit begann, ein eigenes Archiv zu führen, das von dem des Erzbischofs getrennt war. Jedoch könnten dessen Anfänge noch in das 10. Jahrhundert reichen.
Daneben ist daran zu erinnern, dass wohl schon im 11. Jahrhundert bei einzelnen Erzbischöfen damit begonnen wurde, Briefe der Päpste, die an sie gerichtet waren, in Sammlungen zu integrieren. Das Fragment einer solchen Sammlung, die man für den Pontifikat des Erzbischofs Gervasius kennt, ist ein Beispiel für eine solche Initiative. Für das 12. Jahrhundert indes hat sich ein für die Überlieferung päpstlicher Schreiben und Mandate einzigartiges Zeugnis in der Sammlung des Codex 964 (heute ms. 713) der Bibliothèque municipale in Arras erhalten, das über die Beziehungen des Erzbischofs Heinrich von Frankreich zu den zeitgenössischen Päpsten Eugen III. und Hadrian IV. (noch als Bischof von Beauvais), vor allem aber zu Alexander III. willkommene Auskunft gibt41. Die Sammlung enthält jedoch keineswegs die Gesamtheit aller an Heinrich von Frankreich adressierten Briefe und Mandate der päpstlichen Kanzlei, sondern eher eine Auswahl, die auf ein ehemals vollständigeres Register von Eingängen aus der päpstlichen Kanzlei zurückgehen könnte. Da jedoch die Initiative zur Eingliederung solcher Eingänge in eine Sammlung schon in die Zeit hinaufreicht, in der er noch Bischof von Beauvais war, zeigt dies, dass diese Sammlung eher auf eine private Initiative aus seiner frühen Umgebung (Nicolas de Montiérramey? Philipp von L'Aumône?) als auf eine gefestigte Tradition in Beauvais oder Reims hinweisen könnte. Es dürften indes, abgesehen vom ersten Teil, vor allem juristische Interessen bei der Auswahl der päpstlichen Briefe und Mandate wie auch beim Zustandekommen der Sammlung des Codex Arras 964 den Ausschlag gegeben haben.
Zur Überlieferung der älteren Papsturkunden und den Inhalt der erhaltenen Chartulare der Erzbischöfe hat Meinert bereits das Nötige mitgeteilt42.
Nach dem oben Gesagten ist es nicht weiter verwunderlich, dass die erdrückende Mehrheit aller in unseren Regesten aufgeführten Zeugnisse für die Beziehungen zwischen den Erzbischöfen von Reims und der römischen Kirche nicht aus deren Archiv in Reims, sondern aus Sammlungen von Briefen oder Dekretalensammlungen stammt.